«Es kommt mir oft vor, als lebten wir in Parallelwelten», sagt Julia Wolf, Landesvorsitzende Baden-Württemberg des Deutschen Bundesverbands Windenergie. «Der Klimawandel ist medial omnipräsent und erneuerbare Energie als Lösung dafür breit akzeptiert. Gleichzeitig haben wir in fast jedem Windenergieprojekt eine Bürgerinitiative, die dagegen kämpft.» 

Der Ausbau der Windenergie ist in Baden-Württemberg unter anderem wegen Änderungen am nationalen Fördermodell 2017 ins Stocken geraten. Trotzdem bewegt sich das Bundesland auf einem Niveau, von dem die Schweiz nur träumen kann: 730 Anlagen mit einer installierten Leistung von total 1550 Megawatt. Zum Vergleich: In der Schweiz stehen gerade mal 42 Windturbinen mit 87 Megawatt. Mit weniger als 1 Prozent Strom aus Windkraft bilden wir zusammen mit Slowenien und der Slowakei das Schlusslicht Europas.

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Wieso ist Baden-Württemberg bei vergleichbarer Grösse und topografischer Ausgangslage viel weiter? In der Schweiz weht der Wind nicht schwächer. Das Potenzial ist gross. Geeignete Standorte gibt es im ganzen Land. Bis 2050 möchte der Bund 4,3 Terawattstunden aus Wind gewinnen – rund 7 Prozent des heutigen Stromverbrauchs. Der Schweizerische Windenergieverband Suisse Éole schätzt, dass im Winter sogar 20 Prozent möglich sind.

Im Winter bläst der Wind stärker

Der Bund stützt sich zwar bei der künftigen Energieversorgung neben der Wasserkraft primär auf die Solarenergie. Wind sieht er trotzdem als unverzichtbaren Bestandteil einer sicheren, sauberen und einheimischen Versorgung. Denn ausgerechnet im Winter, wenn der Bedarf wegen Heizungen und Beleuchtung höher ist, liefern Wasser und Sonne weniger Strom. Dafür bläst der Wind stärker: Windkraftanlagen stellen zwei Drittel ihrer jährlichen Produktion im Winter bereit und ergänzen deshalb die anderen erneuerbaren Energiequellen zum richtigen Zeitpunkt. 

Der Ausbau in der Schweiz stagniert jedoch, obwohl Abstimmungen in rund 80 Prozent der Fälle zugunsten der Windprojekte ausgehen. «Wir sind eindeutig noch nicht auf Kurs», sagt Markus Geissmann, Leiter Windenergie beim Bundesamt für Energie. «Es ist enorm schwierig, abzuschätzen, wann Anlagen tatsächlich realisiert werden können. Denn sehr viele Projekte sind vor Gericht blockiert. So warten sechs geplante grössere Windparks auf einen Bundesgerichtsentscheid, teilweise schon Jahre.»

Deutschland begann rund 20 Jahre früher als die Schweiz, umweltfreundlichen Strom zu fördern. Die damals noch kleineren Windräder stiessen auf wesentlich weniger Widerstand als die leistungsstärkeren, aber auch grösseren, die heute gebaut werden. 2010 waren in Baden-Württemberg schon etwa 400 Anlagen in Betrieb.

Fukushima verlieh dem Ausbau noch mal einen Schub. «Wir hatten lange einen konservativen CDU-Ministerpräsidenten, der sich gegen Windkraft sperrte. Er prägte den Begriff ‹Verspargelung der Landschaft›», erzählt Julia Wolf. Kurz nach der Atomkatastrophe in Japan bekam das Bundesland im Mai 2011 den deutschlandweit ersten grünen Ministerpräsidenten. «Zwischen 2011 und 2016 tat sich viel. Man hat mit dem neuen Tempo aber auch einiges Porzellan zerschlagen, was mancherorts zu verhärteten Fronten geführt hat.»

Schlusslicht in Sachen Windenergie

Windenergie
Quelle: Suisse Éole, EnergieSchweiz – Infografik: Andrea Klaiber
Umweltverbände miteinbeziehen

Als Antwort darauf entstand 2012 das Dialogforum Erneuerbare Energien und Naturschutz, eine Zusammenarbeit der beiden grössten deutschen Naturschutzverbände Bund und Nabu. «Wir merkten, dass es immer mehr Konflikte um die Windenergie gab, auch innerhalb der Naturschutzverbände – obwohl wir ja beides wollen, Klima und Natur schützen», erzählt Franziska Janke vom Dialogforum. Deshalb soll dieses die Energiewende mit Beratung und Schulung konstruktiv begleiten. «Wir versuchen, uns möglichst frühzeitig mit den örtlichen Naturschützern in Verbindung zu setzen. Denn sie wissen gut Bescheid über ihre Gebiete und sollen ihre Ideen einbringen können – etwa bei Kompensationsprojekten für bestimmte Tierarten oder Aufforstungen», so Janke. 

Mittlerweile seien auch Erfolge spürbar: «Unsere Arbeit konnte an vielen Stellen zur Lösungsfindung für einen naturverträglichen Windenergieausbau beitragen.» Auch Projektentwickler würden sich nun proaktiv an sie wenden. Für diese sei es zwar ein Mehraufwand. Aber am Ende schaffe das Vertrauen und erleichtere das Verfahren. 

Nicht nur Naturschutz, auch Themen wie Lärm, Veränderung der Heimat oder Geld können für Zoff sorgen. Deshalb gründete das Umweltministerium Baden-Württemberg 2016 das Forum Energiedialog. Das Forum ist ein dezidiert neutraler Akteur und versucht, in mehrstufigen Verfahren unter Einbezug von Expertinnen und Experten die Diskussion zu versachlichen. «Meistens geht es um kleine Kommunen mit bis zu 5000 Einwohnern. Da kennt jeder jeden, und es ist enorm wichtig, dass unterschiedliche Sichtweisen nicht zu Zerwürfnissen führen», sagt Projektleiter Rainer Carius. «Das Forum Energiedialog redet mit allen Konfliktparteien auf Augenhöhe und würdigt ihre Argumente. Das schafft Glaubwürdigkeit und Ernsthaftigkeit.» 

Obwohl auch in Baden-Württemberg immer mehr Windenergieprojekte vor Gericht landen, könnten neue regulatorische Änderungen den Ausbau künftig wieder erleichtern: etwa mit zügigeren Genehmigungsverfahren, mehr ausgewiesenen Flächen für Wind oder der Möglichkeit, neben Privaten auch Kommunen finanziell für Kraftwerke auf ihrem Gebiet zu entschädigen.

Wegweisende Gerichtsurteile

Gesamtpolitisch könne sich die Schweiz bei der Energiewende viel von Deutschland abschauen, sagt Reto Rigassi von Suisse Éole. «Die Umweltverbände beteiligen sich in Deutschland wesentlich konstruktiver an der Energiewende und am Ausbau der Windenergie als in der Schweiz.» Vergleichbare Initiativen wie die Dialogforen in Baden-Württemberg gibt es in der Schweiz bisher nicht. Allerdings zwinge die direkte Demokratie Projektanten wie zum Beispiel lokale Elektrizitätswerke dazu, sehr sorgfältig zu planen und zu informieren, weil über Projekte im Gegensatz zu Deutschland meist an der Urne entschieden würde, sagt Rigassi. 

«Wie stark der Widerstand gegen Windkraft in der Schweiz bleibt, hängt auch von den Gerichten ab», sagt Markus Geissmann. Gerade die bevorstehenden Bundesgerichtsurteile könnten wegweisend für die Zukunft sein. Nicht zuletzt sei es aber eine Frage des politischen Willens auf allen Ebenen.

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Tina Berg, Redaktorin
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